Dienstag, 14. Juli 2015

Annäherung an die Kartause La Valsainte (2/6)

Später am Abend der erste Gang durch die weitläufigen Anlagen des Klosters. Im Dunkeln ähnelt es einem Labyrinth aus Torbögen, Häusern, Gärten, Werkstätten. Es ist eingebettet in einem Talkessel, knapp tausend Meter über dem Meer. Rundherum die Gipfel der Zweitausender: ruhig und bizarr heben sie sich gegen den Nachthimmel ab, bilden einen natürlichen Schutz gegen die Indiskretion der Welt. Über mir nur der Sternenhimmel. Die fast fünf Meter hohen Klostermauern halten den kühlen Wind ein wenig ab. „Über allen Gipfeln ist Ruh", denke ich.

Die Mönche im Kreuzgang. La Valsainte.
Plötzlich Glockengeläut von der Kirche. Ein heller, eifriger Klang. Es ist eine Stunde vor Mitternacht. Jetzt werden die Mönche noch einmal zwei Stunden mit dem Singen der biblischen Psalmen verbringen. Nach dem ersten Glockenzeichen betreten die Brüder nacheinander die Kirche, übernehmen einer vom anderen das Glockenseil. Erst wenn der letzte den kargen und schmucklosen Kirchenraum betreten hat, verstummt das Geläut.

Die Mönche beten und singen halb stehend, halb sitzend, die Arme auf den breiten Lehnen des Chorgestühls. Ihr Gesang ist monoton und wirkt nach einiger Zeit beinahe meditativ. Die seit Jahrhunderten unveränderten Melodien klingen spröde. Sie unterliegen keinem Wandel des kirchenmusikalischen Geschmacks. Vor sich haben die Klosterbrüder überdimensionale Bücher liegen, Folianten, die kunstvoll geschrieben und verziert sind, der Text traditionsgemäß in Latein.

Um Mitternacht gehen alle Lichter aus. Nur das „ewige Licht" flackert in die Dunkelheit. Der Akt tiefster Demut, die „Prostratio" ist der Höhepunkt der Messe. Dabei legen sich die Mönche flach auf den Boden und verharren fast zehn Minuten in stillem Gebet.

Die Liturgie der Kartäuser ist schlicht. Es gibt keine Orgel, Flöte oder Gitarre. Allein der Gesang bildet den Rhythmus zur inneren Einkehr. Alle „mechanische" Musik gilt als zu weltlich. So gibt es auch in den Mönchszellen kein Radio und keinen Plattenspieler. Auch Fernsehen und sogar Zeitungen sind verpönt.

(Text: Hans-Dieter Zinn, iwz-Stuttgart, 1986)


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