Freitag, 9. Oktober 2015

In der Tradition des heiligen Bruno schreibt sein Nachfolger Guigo II. - (5/5)

Über die Anzeichen für das Kommen der Gnade

Aber wie sollen wir erkennen, dass du so Großes an uns wirkst?
Welches ist das Zeichen deiner Ankunft?
Sind nicht Seufzer und Tränen die Vorboten und Zeugen dieses Trostes
und dieser Freude? Wenn das so ist, dann ist es ein seltsamer Widerspruch,
ein ungewöhnliches Anzeichen. Denn welche Beziehung besteht
zwischen Trost und Seufzen, zwischen Freude und Tränen?
Aber soll man überhaupt von Tränen sprechen und nicht vielmehr
von dem Überfluss des inneren Taus,
der von oben eingegossen wurde und sich nun verströmt?
Ist es nicht die Abwaschung des äußeren Menschen als Zeichen der inneren Reinigung? Bei der Kindertaufe wird die Reinigung des inneren Menschen
durch die äußere Abwaschung dargestellt und versinnbildet.
Hier dagegen geht die innere Reinigung der äußeren voraus.
O glückselige Tränen, welche die inneren Makel abwaschen und die Brände löschen, die unsere Sünden entfacht haben!
„Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen!“ (Lk 6,21).
O Seele, erkenne an diesen Tränen deinen Bräutigam,
umarme den Geliebten,
berausche dich am Strom deiner Wonnen,
trinke dich satt an der tröstenden Brust
und labe dich an ihrem Reichtum (vgl. Jes 66,11).

Diese Seufzer und Tränen sind die wunderbaren Geschenke des Bräutigams;
in ihnen reicht er dir den gefüllten Becher und das Brot,
das dein Herz stärkt, süßer als Honig und Honigseim.

O Herr Jesus!
Wenn die Tränen, die der Gedanke an dich
und die Sehnsucht nach dir hervorbringen, schon so beglückend sind,
wie selig wird dann erst die klare Schau deines Wesens sein?
Ist es Seligkeit, um dich zu weinen,
wie groß wird die Seligkeit sein,
dich zu besitzen!

Doch wozu geben wir diese innersten Geheimnisse preis?
Warum versuchen wir, mit gewöhnlichen Worten
unaussprechliche seelische Erlebnisse wiederzugeben?
Wer sie nicht erfahren hat, wird sie nicht verstehen.
Man muss sie im Buch der Erfahrungen lesen, wo sie viel besser beschrieben sind, und muss von der göttlichen Salbung belehrt werden.
Sonst wird der Buchstabe dem Leser keinen Nutzen bringen.
Eine bloße Lesung dieses Briefes wäre zu fade,
wenn sie keine Erklärung fände,
die nur das Herz geben kann,
das den inneren Sinn erläutert.



    

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