Eine Kartäusernonne, die uns etwas zu sagen hat.
Ansprache des Heiligen Vaters Papst Benedikt XVI.
In seiner Generalaudienz am 3. November 2010
Sich vom Leben Christi berühren, erneuern und reinigen lassen.
Liebe Brüder und Schwestern!
Mit Marguerite d’Oingt, der ich meine heutige Katechese widme, wenden wir uns einer weiblichen Stimme der Kartäuserspiritualität zu. Die Kartäuser, die nach der streng asketisch-kontemplativen Regel des hl. Bruno leben, haben schöne geistliche Früchte hervorgebracht und im Mittelalter auch große Verbreitung gefunden. Sie haben die spätere Devotio moderna vorbereitet, die sich die konkrete Nachahmung Christi im persönlichen Alltag zur Aufgabe machte.
Über das Leben der Marguerite d’Oingt ist uns nicht viel bekannt. Sie entstammte einer adeligen Familie aus der Gegend von Lyon und wurde 1288 Priorin des Kartäuserinnenklosters von Poleteins. Und dort ist sie auch im Jahre 1310 gestorben. Aus ihrer Feder sind mehrere kleinere Werke bekannt, die eigentlich nur für den Privatgebrauch gedacht waren. Nur die Schrift Speculum – »Spiegel« – wurde bei einem späteren Generalkapitel des Ordens zur Verbreitung freigegeben.
Grundlage des Buches ist eine Vision, bei der Christus der Ordensfrau mit einem Büchlein in der Hand erscheint, das über und über mit Schriftzeichen bedeckt ist. Das geöffnete Buch gleicht einem Spiegel, in dem die Ordensfrau das irdische Leben Jesu, seine Demut, seine Geduld und seinen Gehorsam bis zum Tod vor dem Hintergrund ihres eigenen Lebens betrachtet. Sie erkennt ihr eigenes Unvermögen. Zugleich spiegelt sich Christus in ihr selbst und regt sie an, ihm mit beharrlichem Willen nachzufolgen, Leiden und Missgeschick zu ertragen, sich an der Liebe Gottes zu erfreuen und den Himmel zu ersehnen. Der Inhalt des Buches wird immer mehr in ihr eigenes Herz eingeschrieben, so dass ihr Leben und das Leben Christi ineinander gehen. Auf diese Weise entsteht eine konkrete Liebesbeziehung zu Christus, dem sie immer mehr zugehört. Er nimmt sogar die Stelle ihrer Eltern bei ihr ein, denn sie sagt in einem Gebet: »Weder habe ich, noch will ich Vater und Mutter haben außer Dir.« Mit diesen Worten will sie nicht ihre familiären Bande geringschätzen – sie hat im Gegenteil ihre Familie sehr geliebt –, sondern zum Ausdruck bringen, dass Gottes Liebe alle menschlichen Empfindungen übersteigt.
Das eigentlich Wesentliche, das sie uns sagen will, ist, dass wir gleichsam im Leben Christi wie in einem Buch lesen, uns selber davon anrühren lassen, dass wir unser eigenes Gewissen unter das Licht dieses Lebens stellen, es davon berühren, erneuern und reinigen lassen. Dieses Zuhören, Hinschauen auf Christus und von ihm das Leben zu lernen, unser Gewissen zu reinigen: Das ist es, was sie uns sagen will und was auch für uns Tag um Tag richtunggebend sein sollte.
Ganz herzlich begrüße ich die Pilger und Besucher deutscher Sprache, und natürlich heute besonders die Seminaristen des Erzbischöflichen Studienseminars St. Michael in Traunstein, mein eigenes Seminar, wie ihr wisst. Marguerite d’Oingt sei uns ein Vorbild, der Liebe Gottes zu uns mit einem freudigen Einsatz für unsere Mitmenschen zu antworten. Der Herr begleite euch auf allen euren Wegen.
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