Mittwoch, 9. November 2011

Papst Benedikt in der Kartause, 39

PREDIGT VON PAPST BENEDIKT XVI.
in der Kartause Serra San Bruno in Kalabrien
am Sonntag, dem 9.Oktober 2011
  
Verehrte Mitbrüder im Bischofsamt,
liebe Kartäuserbrüder,
Brüder und Schwestern!


Ich danke dem Herrn, dass er mich an diesen Ort des Glaubens und des Gebets, in die Kartause von Serra San Bruno, geführt hat. Während ich meinen anerkennenden Gruß an Msgr. Vincenzo Bertolone, Erzbischof von Catanzaro-Squillace, erneuere, wende ich mich mit großer Zuneigung an diese Kartäuserkommunität, an jeden einzelnen ihrer Mitglieder, angefangen beim Prior P. Jacques Dupont, dem ich von Herzen für seine Worte danke, während ich ihn darum bitte, dem Generalminister und den Nonnen des Ordens mein dankbares Gedenken und meinen Segen zukommen zu lassen.

Es liegt mir zuallererst daran hervorzuheben, dass dieser mein Besuch in Kontinuität mit manchen Zeichen einer starken Verbundenheit zwischen dem Apostolischen Stuhl und dem Kartäuserorden steht, die im Laufe des vergangenen Jahrhunderts zutage getreten sind. Im Jahr 1924 erließ Papst Pius XI. eine Apostolische Konstitution, mit der er die gemäß dem Codex des kanonischen Rechtes überarbeiteten Satzungen des Ordens approbierte. Im Mai 1984 richtete der sel. Johannes Paul II. anlässlich des 900-Jahrjubiläums der Gründung der ersten Kommunität in La Chartreuse bei Grenoble durch den hl. Bruno ein besonderes Schreiben an den Generalminister. Am 5. Oktober desselben Jahres kam mein geliebter Vorgänger hierher, und die Erinnerung an seinen Aufenthalt in diesen Mauern ist noch immer lebendig. Im Gefolge dieser vergangenen, aber noch immer gegenwärtigen Ereignisse komme ich heute zu euch und möchte, dass unsere Begegnung eine tiefe Verbindung hervorhebt, die zwischen Petrus und Bruno, zwischen dem Hirtendienst an der Einheit der Kirche und der kontemplativen Berufung in der Kirche besteht. Die kirchliche Gemeinschaft bedarf nämlich einer inneren Kraft, jener Kraft, die vorhin der Pater Prior erwähnte, als er mit Bezugnahme auf den hl. Bruno den Ausdruck »captus ab Uno« zitierte: »ergriffen von dem Einen«, von Gott, »Unus potens per omnia«, wie wir im Vesperhymnus gesungen haben. Der Hirtendienst bezieht aus den kontemplativen Gemeinschaften einen geistlichen  Lebenssaft, der von Gott kommt. 

»Fugitiva relinquere et aeterna captare«: Die flüchtigen Wirklichkeiten aufgeben und versuchen, das Ewige zu ergreifen. In diesem Satz aus dem Brief, den euer Gründer an den Propst von Reims, Rodolphe, geschrieben hat, ist der Kern eurer Spiritualität enthalten (vgl. Brief an Rodolphe, 13): das starke Verlangen, in die lebendige Vereinigung mit Gott einzutreten, während alles Übrige, alles, was diese Gemeinschaft behindert, aufgegeben wird und man sich von der unendlichen Liebe Gottes ergreifen lässt, um nur von dieser Liebe zu leben. Liebe Brüder, ihr habt den verborgenen Schatz gefunden, die wertvolle Perle (vgl. Mt 13,44–46); ihr habt mit Radikalität auf die Aufforderung Jesu geantwortet: »Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach!« (Mt 19,21). Jedes Kloster – Männer- wie Frauenkloster – ist eine Oase, in der unablässig der tiefe Brunnen ausgehoben wird, um daraus das »lebendige Wasser« zur Stillung unseres tiefsten Durstes zu schöpfen. Aber die Kartause ist eine besondere Oase, wo das Schweigen und die Einsamkeit mit besonderer Sorgfalt gehütet werden, gemäß der vom hl. Bruno begonnenen und durch die Jahrhunderte hindurch unverändert gebliebenen Lebensform. »Ich wohne mit Brüdern zusammen in der Wüste« ist der zusammenfassende Satz, den euer Gründer schrieb (Brief an Rodolphe, 4). Der Besuch des Nachfolgers Petri in dieser historischen Kartause will nicht nur euch, die ihr hier lebt, sondern den ganzen Orden in seiner Sendung bestärken, die in der heutigen Welt äußerst aktuell und bedeutsam ist.

Der technische Fortschritt, vor allem im Bereich der Fortbewegung und der Kommunikationsmittel, hat das Leben des Menschen bequemer, aber auch hektischer, ja mitunter konfus gemacht. Die Städte sind fast immer laut: Selten herrscht in ihnen Stille, weil immer ein Hintergrundgeräusch bleibt, in manchen Gegenden auch nachts. In den letzten Jahrzehnten hat sodann die Entwicklung der Massenmedien ein Phänomen verbreitet und ausgeweitet, das sich bereits in den Sechzigerjahren abzeichnete: die Virtualität, die das Risiko in sich birgt, die Wirklichkeit zu beherrschen. Die Menschen tauchen, ohne sich dessen bewusst zu werden, durch audiovisuelle Botschaften, die ihr Leben von früh bis abends begleiten, immer tiefer in eine virtuelle Dimension ein. Die Jüngeren, die bereits in diese Situation hineingeboren wurden, scheinen jeden leeren Moment mit Musik und Bildern füllen zu wollen, gleichsam aus Angst, eben diese Leere zu fühlen. Es handelt sich um eine Tendenz, die es besonders unter den Jugendlichen und in den entwickelteren städtischen Lebensräumen immer gegeben hat, die aber heute ein Niveau erreicht hat, so dass man von einer anthropologischen Mutation sprechen kann. Einige Menschen sind nicht mehr fähig, länger in Stille und Einsamkeit zu verweilen. Ich wollte auf diese soziokulturelle Situation hinweisen, weil sie das besondere Charisma der Kartause als ein kostbares Geschenk für die Kirche und für die Welt deutlich macht, ein Geschenk, das eine tiefgründige Botschaft für unser Leben und für die ganze Menschheit enthält. Ich würde sie, wie folgt, zusammenfassen: Wenn sich der Mensch in die Stille und Einsamkeit zurückzieht, setzt er sich in seiner Nacktheit sozusagen der Wirklichkeit, jener scheinbaren »Leere«, auf die ich vorhin hingewiesen habe, aus, um statt dessen die Anwesenheit Gottes, die Fülle der realsten Wirklichkeit, die es geben kann und die jede sinnlich wahrnehmbare Dimension übersteigt, zu erleben. Eine Anwesenheit, die in jedem Geschöpf wahrnehmbar ist: in der Luft, die wir einatmen, im Licht, das wir sehen und das uns wärmt, im Gras, in den Steinen… Gott, »Creator omnium«, Schöpfer aller Dinge, durchdringt alles, steht aber darüber und ist eben deshalb der Grund von allem. Der Mönch, der alles verlässt, geht sozusagen ein Risiko ein: Er setzt sich der Einsamkeit und der Stille aus, um nur vom Wesentlichen zu leben, und gerade dadurch findet er auch zu einer tiefen Gemeinschaft mit den Brüdern, mit jedem Menschen.

Mancher könnte vielleicht meinen, es genüge, hierher zu kommen, um diesen »Sprung« zu vollziehen. Aber dem ist nicht so. Diese Berufung findet wie jede Berufung ihre Antwort in einem Weg, in einer Suche, die ein ganzes Leben lang dauert. Es genügt nämlich nicht, sich an einen Ort wie diesen zurückzuziehen, um das Verweilen in der Gegenwart Gottes zu lernen. Wie es bei der Hochzeit nicht genügt, das Sakrament zu feiern, um tatsächlich eins zu werden, sondern es gilt, die Gnade Gottes wirksam werden zu lassen, um gemeinsam durch den Alltag des Ehelebens zu gehen, so erfordert das Mönchwerden Zeit, Übung, Geduld, »indem man in einem dauernden Wach sein für das Göttliche« – wie der hl. Bruno sagte – »auf die Wiederkunft des Herrn wartet, um ihm sogleich die Tür zu öffnen« (Brief an Rodolphe, 4); und gerade darin besteht die Schönheit jeder Berufung in der Kirche: Gott Zeit zu geben, durch seinen Geist zu wirken, und dem eigenen Menschsein Zeit zu geben, sich zu formen, nach dem Maßstab der Reife Christi in jenem besonderen Lebensstand zu wachsen. In Christus ist das Ganze, die Fülle vorhanden; wir brauchen Zeit, um uns eine der Dimensionen seines Geheimnisses anzueignen. Wir könnten sagen, dass dies ein Weg der Verwandlung ist, auf dem sich das Geheimnis der Auferstehung Christi in uns erfüllt und offenbar wird, ein Geheimnis, an das uns heute Abend das Wort Gottes in der aus dem Römerbrief stammenden Lesung erinnert hat: der Heilige Geist, der Jesus von den Toten auferweckt hat und auch unsere sterblichen Leiber lebendig machen wird (vgl. Röm 8,11), ist derjenige, der, entsprechend der Berufung jedes einzelnen, auch unsere Gleichgestaltung mit Christus vollbringt, ein Weg, der vom Taufbrunnen bis zum Tod, Durchgang zum Haus des Vaters, verläuft. Bisweilen scheint es den Augen der Welt unmöglich zu sein, das ganze Leben in einem Kloster zu verbringen; in Wirklichkeit aber reicht ein ganzes Leben kaum aus, um in diese Vereinigung mit Gott, in jene wesentliche und tiefe Wirklichkeit einzutreten, die Jesus Christus ist.

Dazu bin ich hierhergekommen, liebe Brüder, die ihr die Kartäuserkommunität von Serra San Bruno bildet! Um euch zu sagen, dass die Kirche euch braucht und dass ihr die Kirche braucht. Euer Platz ist nicht nebensächlich: Keine Berufung im Volk Gottes ist nebensächlich: Wir sind ein einziger Leib, in dem jedes Glied wichtig ist und dieselbe Würde besitzt und untrennbar vom Ganzen ist. Auch ihr, die ihr in einer freiwilligen Zurückgezogenheit lebt, befindet euch in Wirklichkeit im Herzen der Kirche und lasst das reine Blut der Kontemplation und der Gottesliebe in ihren Adern fließen. »Stat Crux dum volvitur orbis« [Das Kreuz steht, solange sich der Erdkreis dreht] – so lautet euer Leitspruch. Das Kreuz Christi ist der ruhende Pol inmitten der Veränderungen und Umwälzungen der Welt. Das Leben in einer Kartause teilt die Beständigkeit des Kreuzes, welche die Beständigkeit Gottes, seiner treuen Liebe ist. Wenn ihr wie die Reben mit dem Weinstock fest mit Christus verbunden bleibt, seid auch ihr, Kartäuserbrüder, mit seinem Heilsmysterium verbunden wie die Jungfrau Maria, die in derselben Hingabe der Liebe mit dem Sohn vereint beim Kreuz stand.

So wie Maria und zusammen mit ihr seid auch ihr tief eingebunden in das Geheimnis der Kirche, Sakrament der Verbundenheit der Menschen mit Gott und untereinander. Darin steht ihr auch auf einzigartige Weise meinem Amt nahe. Sie, die allerseligste Mutter der Kirche, wache also über uns, und der heilige Vater Bruno segne vom Himmel aus stets eure Kommunität. Amen.

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