Als
der Gesang anhebt, wirkt das wie ein Schock, nicht wie ein Zusammenzucken oder
Erschrecken, sondern wie ungläubiges Staunen. 20 Männerstimmen, die um
dringende Hilfe und gnädigen Beistand flehen. Gregorianischer Choral aus
unvordenklichen Zeiten, den sie, ohne instrumentalen Anstoß, leise und langsam
singen. Aus der tiefen Stille tretend, gelingt es ihnen im fliegenden Wechsel
die Stille mit anderen Mitteln fortzusetzen. Nie zuvor erschien es mir so
fühlbar, dass der gregorianische Gesang nicht nur Hymne an die Stille ist,
sondern in ihr wurzelt, in sie zurückfließt. So, wie die Wüstenväter das
Schweigen als „die Sprache der Engel und der zukünftigen Zeit"
betrachteten, offenbart diese Nacht eine mysteriöse Verwandtschaft zwischen Gesang
und Stille, sie wird nicht nur hörbar, es ist schlimmer, sie überflutet,
ergreift Besitz von den Landschaften der Seele.
Diese
Kirche ist nicht schön, und doch scheint sie in dieser verrückten Stunde ein kongenialer
Ort zu sein, dem „einzig Notwendigen" allen Platz, alle Zeit zu widmen.
Das Chorgestühl, in dem man abwechselnd steht, sitzt oder lehnt, hat hohe Seitenwangen.
Man kann sich darin zurückziehen, zurückfallen lassen. Der Nachbar
verschwindet, nur noch Schatten, Silhouetten. Die Aufteilung in drei Nokturnen
mit mehreren Psalmen, vier Lesungen und Responsorien unterliegt einer strengen
Regie, doch sie erfolgt freihändig, auswendig, manchmal möchte man meinen,
traum-, nein, seiltänzerisch. Nichts, das den Fluss ihres Ablaufs stören oder
aufhalten könnte. Selbst die Fehler oder Versprecher sind darin angenommen und
werden, je nach Gravität der Abweichung, mit der „venia", einem Kuss des
Chorpultes oder des Fußbodens, liebevoll aufgefangen. Eine besondere Haltung der
Hingabe bedeutet die "Prostration", ein Sich-Hinwerfen, Sich-Hinstrecken,
Im-Boden-Versinken, das in der Enge zwischen der Rückwand des Chores und der
Bücherablage in einer sonderbaren seitlichen Krümmung geschieht. Ich muss mich
erst zurecht finden, doch dann liegen wir alle, wie die Lemminge, flach auf den
blank getretenen, kalten Holzplanken. Lange, wie mir scheint. Nichts geschieht
hier für die Galerie.
Psalmen,
Hymnen und Lesungen folgen der saisonalen Dramaturgie des Kirchenjahres. Dann
fallen Worte, die wie Axthiebe die Stille durchschneiden. In den Tagen vor
Anbruch der großen Fastenzeit gedenken sie des heiligen Einsiedlers Petrus
Damianus, der kleinen Bernadette Soubirous aus Lourdes oder des Sonntags
Quinquagesima. Das Licht fällt gebündelt auf die gelblichen Seiten des
Lektionars. Heute Nacht Paulus im Korintherbrief: „Jetzt sehen wir wie durch
einen Spiegel, rätselhaft, dann aber von Angesicht zu Angesicht." Der
strenge Prokurator steht am Pult, „das Verbrechergesicht", noch düsterer,
unrasiert, in diesem „clair-obscur", aber, wie sehr tue ich ihm Unrecht, seine
Stimme ist männlich, glaubwürdig, als rezitiere er Vertraulichkeiten aus einem
intimen Tagebuch: „Jetzt erkenne ich nur stückweise; dann aber werde ich ganz
erkennen, so wie ich selbst erkannt bin."
(Ausschnitte:
Sterne über Sélignac, Freddy Derwahl, Eremiten Die Abenteuer der Einsamkeit,
Pattloch 2000)