Mittwoch, 31. Oktober 2012

Leben aus Gott und für Gott allein

-das ist das tiefste Geheimnis der Kartäusereinsamkeit. Nichts mehr wollen, nichts mehr wissen, nichts mehr besitzen außer Gott und Gott allein, das macht das Ideal unseres Berufes aus. Jede Sorge um anderes als um Ihn, unsere einzige Liebe, ist überflüssig. Nur der unendliche, dreipersönliche Gott ist groß genug, um das Menschenherz zu erfüllen.

Wir Kartäuser wollen durch unser äußeres und inneres Schweigen lediglich Gefäß sein, das wir Gott hinhalten, damit Er, der persönliche Gott, uns erfülle. Er ist der Schöpfer und Herr. Für Ihn wollen wir verfügbar sein. Es geht nicht um unser kleines Ich. Es geht um Gott, den allein Heiligen, der allein der Herr ist. Es geht um Seine Ehre, die gerade heute von so vielen Menschen mit Füßen getreten wird.

(P. Hubertus Maria Blüm OCart, Die Kartäuser, Köln 1983, 16)

Dienstag, 30. Oktober 2012

Ein Besucher fragte einmal einen Kartäuser

„Gibt es eine eigene kartusianische Schule der Spiritualität?"
Daraufhin wurde ihm geantwortet:

„Unsere Spiritualität hat kein anderes Charakteristikum als die Einfachheit. Alle Schulen und alle Methoden der Spiritualität haben bei uns Bürgerrecht, insofern sie uns zur Vereinigung mit Gott führen ... Unser einsames Leben und unser rein geistliches Ziel gestatten es, vollkommene Einheit des Zieles mit individueller Freiheit in den Mitteln zu vereinen“.

(P. Hubertus Maria Blüm OCart, Die Kartäuser, Köln 1983, 15)

Sonntag, 28. Oktober 2012

Die Große Kartause

Am Montag 
versammeln sich die Mönche 
vor den großen Tor 
zum wöchentlichen Spaziergang,
- gleich bei welcher Witterung.




Freitag, 26. Oktober 2012

Sterne über Sélignac (Sélignac, 12 von 12)

Einige Tage später verlasse ich die Kartause von Sélignac, stürze hinaus, haue ab. Gescheitert beim Versuch, meine kleinlichen Abgründe an diesem Abgrund zu messen.


Hin und wieder nehme ich Dom Etiennes Brief und lese, immer noch fasziniert, seine Zeilen der Ermutigung. Es ist schon Jahre her. Wir haben uns nicht mehr geschrieben. Aber, es gibt Zeiten, an denen ich zum nächtlichen Himmel aufblicke, und mir die Sterne von Sélignac ganz nahe sind.

(Ausschnitte: Sterne über Sélignac, Freddy Derwahl, Eremiten Die Abenteuer der Einsamkeit, Pattloch 2000)

Donnerstag, 25. Oktober 2012

Eiskalt und uralt (Sélignac, 11 von 12)

Als der Prior mit geballter Faust wieder auf das Pult klopft, staune ich, dass die zwei Stunden schon vorüber sind. Die Dunkelheit draußen ist jetzt vertrauter, fortgeschrittener, man hat mit ihr gewacht. Im Innenhof empfinde ich erstmals eine tiefe Dankbarkeit. Keine größere Nacht in meinem Leben, ich will nicht mehr sagen. Auf der Wand des Innenhofes die überlebensgroßen Kapuzenköpfe der beiden Brüder hinter mir. Nie habe ich sie, die das große Zellengebäude mit mir teilen, zu Gesicht bekommen. Doch werde ich sie immer so in Erinnerung behalten: zwei Schatten nach dem Nachtoffizium der Kartäuser. Sterne über Sélignac, Kosmisches Einverständnis. Eiseskälte, inzwischen minus 25 Grad. Ihr schweres Schuhwerk auf den Steingängen. Gänsehaut, wie nach einer Vision.


Das Wecken, kurz vor sechs, ist grausam, die Kälte erschreckender denn je, draußen noch immer tiefste Nacht, Schreie von Raubvögeln weit oben in den unsichtbaren Schneefelsen. In der Kirche beginnt nach der Laudes die Eucharistie. Gleich fällt auf, dass sie sich ihre uralten Ritustraditionen bewahrt haben, die das Spärliche, Ausgewischte mit der Langsamkeit verbinden. Es zählt nur die dramatische Intensität der sakralen Handlung, des heiligen Spiels. Die in Kreuzesform weit ausgebreiteten Arme des Priesters beim Hochgebet. Das mysteriöse Zusammenspiel von Kampf und Kontemplation. Mose, der Einsame auf dem Berg, lies die Arme nicht sinken, während Josua in der Ebene, bei wechselndem Kriegsglück, mit den Amalekitern kämpfte. Abendmahl und Abschiedsszene, Brotbrechen, Weintrinken, Danksagen im Schatten tödlichen Verrats. Mehr als eine Stunde dauert an diesem Wochentag die Messe, aber hier ist nichts beiläufig, nichts Routine. Nur heiliger Ernst, dem sich niemand entziehen kann.

(Ausschnitte: Sterne über Sélignac, Freddy Derwahl, Eremiten Die Abenteuer der Einsamkeit, Pattloch 2000)

Mittwoch, 24. Oktober 2012

Nachtoffizium (Sélignac, 10 von 12)

Als der Gesang anhebt, wirkt das wie ein Schock, nicht wie ein Zusammenzucken oder Erschrecken, sondern wie ungläubiges Staunen. 20 Männerstimmen, die um dringende Hilfe und gnädigen Beistand flehen. Gregorianischer Choral aus unvordenklichen Zeiten, den sie, ohne instrumentalen Anstoß, leise und langsam singen. Aus der tiefen Stille tretend, gelingt es ihnen im fliegenden Wechsel die Stille mit anderen Mitteln fortzusetzen. Nie zuvor erschien es mir so fühlbar, dass der gregorianische Gesang nicht nur Hymne an die Stille ist, sondern in ihr wurzelt, in sie zurückfließt. So, wie die Wüstenväter das Schweigen als „die Sprache der Engel und der zukünftigen Zeit" betrachteten, offenbart diese Nacht eine mysteriöse Verwandtschaft zwischen Gesang und Stille, sie wird nicht nur hörbar, es ist schlimmer, sie überflutet, ergreift Besitz von den Landschaften der Seele.


Diese Kirche ist nicht schön, und doch scheint sie in dieser verrückten Stunde ein kongenialer Ort zu sein, dem „einzig Notwendigen" allen Platz, alle Zeit zu widmen. Das Chorgestühl, in dem man abwechselnd steht, sitzt oder lehnt, hat hohe Seitenwangen. Man kann sich darin zurückziehen, zurückfallen lassen. Der Nachbar verschwindet, nur noch Schatten, Silhouetten. Die Aufteilung in drei Nokturnen mit mehreren Psalmen, vier Lesungen und Responsorien unterliegt einer strengen Regie, doch sie erfolgt freihändig, auswendig, manchmal möchte man meinen, traum-, nein, seiltänzerisch. Nichts, das den Fluss ihres Ablaufs stören oder aufhalten könnte. Selbst die Fehler oder Versprecher sind darin angenommen und werden, je nach Gravität der Abweichung, mit der „venia", einem Kuss des Chorpultes oder des Fußbodens, liebevoll aufgefangen. Eine besondere Haltung der Hingabe bedeutet die "Prostration", ein Sich-Hinwerfen, Sich-Hinstrecken, Im-Boden-Versinken, das in der Enge zwischen der Rückwand des Chores und der Bücherablage in einer sonderbaren seitlichen Krümmung geschieht. Ich muss mich erst zurecht finden, doch dann liegen wir alle, wie die Lemminge, flach auf den blank getretenen, kalten Holzplanken. Lange, wie mir scheint. Nichts geschieht hier für die Galerie.

Psalmen, Hymnen und Lesungen folgen der saisonalen Dramaturgie des Kirchenjahres. Dann fallen Worte, die wie Axthiebe die Stille durchschneiden. In den Tagen vor Anbruch der großen Fastenzeit gedenken sie des heiligen Einsiedlers Petrus Damianus, der kleinen Bernadette Soubirous aus Lourdes oder des Sonntags Quinquagesima. Das Licht fällt gebündelt auf die gelblichen Seiten des Lektionars. Heute Nacht Paulus im Korintherbrief: „Jetzt sehen wir wie durch einen Spiegel, rätselhaft, dann aber von Angesicht zu Angesicht." Der strenge Prokurator steht am Pult, „das Verbrechergesicht", noch düsterer, unrasiert, in diesem „clair-obscur", aber, wie sehr tue ich ihm Unrecht, seine Stimme ist männlich, glaubwürdig, als rezitiere er Vertraulichkeiten aus einem intimen Tagebuch: „Jetzt erkenne ich nur stückweise; dann aber werde ich ganz erkennen, so wie ich selbst erkannt bin."

(Ausschnitte: Sterne über Sélignac, Freddy Derwahl, Eremiten Die Abenteuer der Einsamkeit, Pattloch 2000)
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