Die
Winternachmittage in der Kartause sind von einer sonderbaren Kürze. Der
Glockenturm zerhackt sie wie Brennholz in kleine Teile, von der jedes sein
Recht fordert. Jede Viertelstunde schlägt an und signalisiert den Beginn des
kleinen Marienoffiziums „de beata", das jeder Mönch allein in der Zelle
rezitiert. Das sind einsame, lautlose Ouvertüren der eigentlichen Stundengebete.
Die Vesper, ursprünglich die Zeit „des Kerzenanzündens", findet bereits um
15 Uhr statt. Danach bricht schon das Licht, vor allem an Nebeltagen, die im
Februar in Sélignac kein Ende nehmen. Rings um das Kloster mit seinen Einsiedlerhäuschen
am großen Kreuzgang: Felsen, Tannen, Schnee. Manchmal fühle ich mich im Nebel
wie in einem Loch, wie in einer Falle, doch dann muss ich mich belehren lassen,
Nebeltage seien wie die Seelen der Kartäuser, verborgen in einem langen,
illusionslosen Kampf. An solchen Tagen beginnt kurz nach vier Uhr nachmittags
schon die Nacht.
Die
Zeit ist „ver-rückt", buchstäblich auf den Kopf gestellt. Gegen 19 Uhr
legen sie sich zum Schlafen. Um viertel vor elf beginnt in der Zelle die
Marienmette. Um halb zwölf läutet es zur Matutin in der Kirche, dem
zweistündigen Nachtoffizium. Um 6 Uhr in der Frühe ist zweites Aufstehen, um viertel
nach sieben Messfeier. Auch werden stille Messen gelesen. Bald wechseln Studium,
Arbeit und Stundengebete einander ab. Dreimal erfolgt der Angelus. Auch beten
sie das Totenoffizium. Wie viele Glockenschläge am Tag, zur Nacht? Der Mönch,
der Eremit, im Räderwerk organisierter Stille. Zeit, sickernd, stürzend wie in
der Eieruhr. Es sei denn, sie schaffen im Nebel Durchbrüche, hinaus aus der
Zeit, aus dem Nebel der Welt. Wie viele Glockenschläge, bis solch ein Leben die
Ränder des Lichts erspürt?
(Ausschnitte:
Sterne über Sélignac, Freddy Derwahl, Eremiten Die Abenteuer der Einsamkeit,
Pattloch 2000)
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