Montag, 22. Oktober 2012

Angespannte Schlaflosigkeit (Sélignac, 8 von 12)

[ … ] Ich finde in der Nacht keinen Schlaf. Zu früh erlischt die Lampe, dann kriecht die Kälte heran, ich wehre mich mit allen verfügbaren Decken, doch sind es die „Gedanken", die mich hartnäckig daran hindern, endlich Ruhe zu finden. Tückische und zugleich lächerliche Gedanken: das Gefühl des Eingeschlossenseins, die Furcht, der kleine Kartäuserofen werde giftigen Qualm freisetzen, die Furcht, den „Exzitator" beim Wecken nicht zu hören, die Furcht vor dem bösen Erwachen. Blanke Ängste schließlich aus der Dunkelkammer des Unterbewussten: Probleme und Sorgen, denen ich nicht gewachsen bin, die Erfahrung des Scheiterns, Abstürze, Trennungen, viel Trauer, das Empfinden, große Schuld auf mich geladen zu haben. In den kleinen Einsiedlerhäuschen am großen Kreuzgang beten die Mönche schon die Marienmette. Das geht mir durch den Kopf: eine souveräne Frau als Zuflucht im „Tal der Tränen". Dann dringen dumpfe Glockenschläge und Schritte in das Niemandsland meines Halbschlafs, immer näher, zunächst ein kurzes, trockenes Klopfen, dann eine tiefe Männerstimme, ich antworte erschrocken, springe aus der Bettengruft ans Wasserbecken. Schwache Lichter auf den Gängen, man wagt kaum aufzutreten. Die Kälte draußen ist schneidend - das Thermometer sank auf minus 22 Grad -, aber sie belebt. Ich bin hellwach, als ich die große Tür zum Mönchschor öffne und rechts, neben dem Prior, meinen Platz finde.


(Ausschnitte: Sterne über Sélignac, Freddy Derwahl, Eremiten Die Abenteuer der Einsamkeit, Pattloch 2000)

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