Montag, 15. Oktober 2012

Eine Chance vertan (Sélignac, 1 von 12)

Ich muss gestehen, dass ich an der Kartause von Sélignac gescheitert bin. Die Niederlage war vorgezeichnet und vollzog sich mit unerbittlicher Härte. Alles, innerlich und äußerlich, sprach gegen dieses Abenteuer. Kummer und Überdruss, scheiternde  Evasionen, zerbrechende Freundschaften, berufliche Sorgen, politische Pressionen, Verirrungen, Illusionen, das Eis und die Kälte in mir [ … ].


Dom Etienne hat das mit der „Niederlage" nicht so stehen lassen. Postwendend erhielt ich einen jener kurzen, intensiven Briefe, die ohne viel Aufhebens die Dinge klar stellen und eine Impression unerhofften, väterlichen Zuspruchs hinterlassen. Niederlage? Nein, davon könne keine Rede sein, mahnte er in seiner kernigen Kleinschrift. Ein Kartäuserkloster sei weder eine Fitnessinsel, noch eine Heilanstalt für weltlichen Seelenschmerz. Er kenne Männer, die hier Jahre durchgehalten hätten, bevor sie über Nacht für immer verschwanden. Doch weigere er sich, selbst die tragischeren Abschiede und Trennungen als Niederlage zu deuten. Was wüssten wir denn schon vom „Untergrund des Verlorenseins" und von den tiefen Absichten des „guten Hirten"? Als ich den Brief weglegte, war ich sehr traurig, einem Menschen, der so zu sprechen vermag, keine Chance gelassen zu haben.

(Ausschnitte: Sterne über Sélignac, Freddy Derwahl, Eremiten Die Abenteuer der Einsamkeit, Pattloch 2000)

Chartreuse  du Selignac - im Sommer

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