Mittwoch, 24. Oktober 2012

Nachtoffizium (Sélignac, 10 von 12)

Als der Gesang anhebt, wirkt das wie ein Schock, nicht wie ein Zusammenzucken oder Erschrecken, sondern wie ungläubiges Staunen. 20 Männerstimmen, die um dringende Hilfe und gnädigen Beistand flehen. Gregorianischer Choral aus unvordenklichen Zeiten, den sie, ohne instrumentalen Anstoß, leise und langsam singen. Aus der tiefen Stille tretend, gelingt es ihnen im fliegenden Wechsel die Stille mit anderen Mitteln fortzusetzen. Nie zuvor erschien es mir so fühlbar, dass der gregorianische Gesang nicht nur Hymne an die Stille ist, sondern in ihr wurzelt, in sie zurückfließt. So, wie die Wüstenväter das Schweigen als „die Sprache der Engel und der zukünftigen Zeit" betrachteten, offenbart diese Nacht eine mysteriöse Verwandtschaft zwischen Gesang und Stille, sie wird nicht nur hörbar, es ist schlimmer, sie überflutet, ergreift Besitz von den Landschaften der Seele.


Diese Kirche ist nicht schön, und doch scheint sie in dieser verrückten Stunde ein kongenialer Ort zu sein, dem „einzig Notwendigen" allen Platz, alle Zeit zu widmen. Das Chorgestühl, in dem man abwechselnd steht, sitzt oder lehnt, hat hohe Seitenwangen. Man kann sich darin zurückziehen, zurückfallen lassen. Der Nachbar verschwindet, nur noch Schatten, Silhouetten. Die Aufteilung in drei Nokturnen mit mehreren Psalmen, vier Lesungen und Responsorien unterliegt einer strengen Regie, doch sie erfolgt freihändig, auswendig, manchmal möchte man meinen, traum-, nein, seiltänzerisch. Nichts, das den Fluss ihres Ablaufs stören oder aufhalten könnte. Selbst die Fehler oder Versprecher sind darin angenommen und werden, je nach Gravität der Abweichung, mit der „venia", einem Kuss des Chorpultes oder des Fußbodens, liebevoll aufgefangen. Eine besondere Haltung der Hingabe bedeutet die "Prostration", ein Sich-Hinwerfen, Sich-Hinstrecken, Im-Boden-Versinken, das in der Enge zwischen der Rückwand des Chores und der Bücherablage in einer sonderbaren seitlichen Krümmung geschieht. Ich muss mich erst zurecht finden, doch dann liegen wir alle, wie die Lemminge, flach auf den blank getretenen, kalten Holzplanken. Lange, wie mir scheint. Nichts geschieht hier für die Galerie.

Psalmen, Hymnen und Lesungen folgen der saisonalen Dramaturgie des Kirchenjahres. Dann fallen Worte, die wie Axthiebe die Stille durchschneiden. In den Tagen vor Anbruch der großen Fastenzeit gedenken sie des heiligen Einsiedlers Petrus Damianus, der kleinen Bernadette Soubirous aus Lourdes oder des Sonntags Quinquagesima. Das Licht fällt gebündelt auf die gelblichen Seiten des Lektionars. Heute Nacht Paulus im Korintherbrief: „Jetzt sehen wir wie durch einen Spiegel, rätselhaft, dann aber von Angesicht zu Angesicht." Der strenge Prokurator steht am Pult, „das Verbrechergesicht", noch düsterer, unrasiert, in diesem „clair-obscur", aber, wie sehr tue ich ihm Unrecht, seine Stimme ist männlich, glaubwürdig, als rezitiere er Vertraulichkeiten aus einem intimen Tagebuch: „Jetzt erkenne ich nur stückweise; dann aber werde ich ganz erkennen, so wie ich selbst erkannt bin."

(Ausschnitte: Sterne über Sélignac, Freddy Derwahl, Eremiten Die Abenteuer der Einsamkeit, Pattloch 2000)

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